Man hatte mich nicht vorgewarnt.
Jetzt, da ich wieder etwas klarer denken kann, was ich eigentlich gesehen habe, habe ich Mühe, die Ereignisse des vergangenen Tages - insbesondere die Zeit zwischen 15 und 20 Uhr - im wortwörtlichen Sinne zu verdauen.
Die Geschichte begann an einer U-Bahn-Station irgendwo in Seoul. Gestern war ein klarer kalter Wintertag in Seoul. Auf den Straßen herrschte das übliche Gedrängel. Nur langsam konnte man sich einen Weg vorwärts bahnen.
Es war nur eine einzige Straßenecke, um die ich bog, aber ich befand mich plötzlich in einer ganz anderen Welt. Zuerst sah ich Käfige, die man normalerweise selten auf koreanischen Lebensmittelmärkten sieht. Sie waren 1-2 Meter lang und breit und schätzungsweise einen halben Meter hoch. Stabiles Eisen. Aufgereiht die ganze Straße entlang. Dahinter lagen die Geschäftsräume, große schwarze Töpfe, in denen man anscheinend etwas zubereitete. Wie Restaurants sahen diese Räume aber nicht aus.
Wie gesagt, es war sehr kalt. In den Käfigen saßen Kaninchen, Enten, Hühner, Fasane. Dicht zusammengedrängt. Einige Augenblicke später sahich auch Ziegen, dann Hunde, Katzen. Es stank ein bisschen nach Urin. Die Tiere verhielten sich seltsam ruhig. Kein Geschnatter, kein Gebell. Wahrscheinlich achteten sie instinktiv darauf, nicht zu viel Körperenergie abzugeben. Selbst beim Laufen kroch mir die Kälte in die Füße. Lange konnte man nicht an einer Stelle stehen bleiben. Man musste sich bewegen, um nicht zu frieren. Die Tiere hockten nur stumm da, eng zusammen gerückt und wärmten sich gegenseitig.
Im Sommer, hörte ich meinen Begleiter sagen, soll der Gestank übrigens fürchterlich sein. Deshalb sollte man diesen Markt besser nur im Winter, Frühling oder Herbst besuchen.
Kurz vor
Seollal war der Markt an diesem Sonnabend natürlich überfüllt. Familien kauften Lebensmittel für die bevorstehenden Feiertage ein. Natürlich auch Fleisch. An mehreren Ständen konnte ich beobachten, wie die Tiere in aller Öffentlichkeit unter freiem Himmel geschlachtet, gehäutet und ausgenommen wurden. Männer standen dabei und rauchten, palaverten, lachten. Frauen beäugten kritisch die Ware, prüften das Fleisch mit den Fingern. Ein Schauspiel für die ganze Familie.
Mir gelangen ein paar Fotos im Vorübergehen. Ich hatte Angst, dass mich jemand festhält oder anspricht, denn ich war weit und breit der einzige Ausländer. Die Koreaner, vor allem die Händler, betrachteten mich mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen.
Das Problem beim Fotografieren mit Digitalkameras ist die Auslöseverzögerung. Man braucht immer eine knappe Sekunde länger, um den richtigen Bildausschnitt zu treffen, abzudrücken, zu warten, bis das Bild auf dem Chip gespeichert ist, dann noch eine Millisekunde lang das gemachte Bild zu kontrollieren und die Kamera wieder unauffällig in der Jackentasche zu verstauen.
Eine Zeit lang ging das gut, aber dann geriet ich doch an einen aufmerksamen Hundefleischverkäufer, der mich beim Fotografieren eines Hundekäfigs beobachtete und lauthals rief, ich solle gefälligst die Kamera einpacken und verschwinden. Ich murmelte eine Entschuldigung, hob die Hand zum Gruß und lief schnell weiter.
Nochmal gut gegangen. Meine koreanischen Begleiter lachten und erklärten mir, dass die Händler wohl Angst vor "Greenpeace" oder dem Tierschutz hätten und ich als Ausländer in deren Augen so etwas wie ein westlicher Spion sei. Naja, geschenkt.
Wir setzten uns zum Essen (1. Runde) in eines der zahlreichen Zelte. Eigentlich ist Zelt zuviel gesagt, denn es handelte sich dabei um Gerüste aus Eisenstangen, die mit Plastikplanen und Zeltstoff versehen waren und wenigstens den kalten Wind von draußen abhalten sollten. Zu Essen gab es Pfannkuchen.
Die vielen aneinandergereihten Zelte bildeten Rechtecke. Schmale Wege führten an ihnen vorbei. Man saß also da und das ganze Panorama an Familien, jungen Pärchen, zahnlosen Alten und Wandergruppen zog an einem vorbei. Es wirkte ein bisschen wie eine Schaubühne, an der unablässig immer neue Personen auftauchten, vorbeischlenderten und wieder verschwanden. Alles befand sich auf der Reise. Der Makkoli, den wir tranken, tat seine Wirkung dazu. Einzelheiten in der Nähe traten klarer hervor, Dinge in der Ferne verschwammen.
Trotzdem blieb die kälte der ärgste Feind. Wir brachen auf. Auf einem großen Platz versammelte sich eine Menschenmenge und sah zu, wie sich drei Männer in Frauenkleidern (sehr ungewöhnlich für Korea) durch eine echte Marketing-Verkaufs-Show mühten. Sie sangen, tanzten, erzählten Witze. Zwischendurch machten sie kurze Pausen und verkauften dem Publikum Tofu oder Süßigkeiten. Genau erkennen konnte ich es nicht, denn ich stand zu weit hinten.
Bei der Konkurrenz, die dieses Prinzip einer Live-Show mit Musik und Tanz ebenfalls anwandten, rief mir der Sänger zu: "He, Ausländer. Made in America?" Ich grinste, schüttelte den Kopf und machte mit den Armen das typische koreanische "Nein". Egal, in den Augen des fahrenden Händlers war ich ein Amerikaner, den er mit "Willkommen, amerikanischer Gast..." begrüßte. Zum Glück gab es gleich darauf laute Rummelplatz-Schlager-(Teurotteu)-Musik, so dass ich "Amerikaner" schnell vergessen war, denn alles tanzte und sang mit.
Für die zweite Runde begaben wir uns in ein anderes Zelt am Rande des Marktes. An langen Tischen saßen die Menschen und aßen. Die Spezialität des Hauses schienen in diesem Lokal/Zelt Eier zu sein. Es fiel mir ziemlich schnell auf, dass auf fast allen Tischen Teller mit Eiern standen. Als ich mich danach bei meinen Begleitern erkundigte, meinten sie, dass es sich hierbei um eine Delikatesse handle. Mehr dazu später.
Ich musste dringend auf Toilette, die etwas abseits lag. Als ich zurück kam, stand auf unserem Tisch ein großer Suppentopf auf einem Gaskocher. Im Topf erkannte ich lange schmale Rippen und wusste sofort, was die Stunde geschlagen hatte: Bosintang.
Einer der Begleiter weigerte sich - so lange ich ihn kenne und wann immer wir zusammen unterwegs waren - aus religiösen Gründen, diese Suppe zu essen. Er ist Buddhist. Der zweite Begleiter zog ihn immer damit auf, dass wir unbedingt dieses "gute Gericht", wie er sich auszudrücken pflegte, dieses "gesunde Essen", von dem man "viel Kraft und Energie" bekommt, endlich essen sollten. Unser Wahlspruch lautet ja: Alle oder keiner (in Anlehnung an die drei Musketiere). Irgendwie mussten sich die Koreaner während meiner Abwesenheit darauf geeinigt haben, dass dieser Tag für "Bosintang" heute sei.
Ich tat erstmal so, als wüßte ich nicht, was in dem Suppentopf vor sich hin blubberte. Als es soweit war und wir zu essen begannen, merkte ich, wie mich der Buddhist sehr intensiv ansah, als ich ein Stück Fleisch aus der Suppe mit den Stäbchen griff und es umgehend verspeiste. "Schmeckt prima, musst du auch probieren", sagte ich und tat weiterhin ganz ahnungslos. Es war als Witz gemeint, aber seinen Blick, der zwischen Ekel, Hilflosigkeit, Entsetzen und Fassungslosigkeit hin und her pendelte, werde ich so schnell nicht vergessen.
Er war tapfer und probierte auch.
Ich grinste dem anderen Begleiter zu. Er grinste zurück. Der Buddhist würgte ein bisschen an den drei Fleischfasern, die er sich in den Mund gesteckt hatte, herum und meinte, dass das ja wirklich ekelhaft sei. Außerdem würde die ganze Suppe stinken.
Nachdem das also geklärt war, richtete sich der Fokus der Koreaner auf die Eier, die die anderen Gäste auf ihren Tischen hatten und eifrig aßen. Einige packten sich die Eier sogar in ihre Taschen. Wir sollten das auch bestellen, meinte der eine. Ich fragte vorsichtig, was das genau sei. Eine richtige Antwort erhielt ich von ihnen natürlich nicht. Sie wußten es entweder wirklich nicht oder wollten mir die Wahrheit nicht verraten.
Was dann kam, überstieg alles, was ich bis dahin an Essbarem kennengelernt hatte. Feinfühlige Leser, die sich im Tierschutz engagieren oder Vegetarier, sollten an dieser Stelle aufhören zu lesen...
Die Bedienung brachte einen Teller mit fünf Eiern. Teilweise waren die Schalen an manchen Stellen schon aufgeplatzt und etwas Gelbes, dass aber nicht wie das hartgekochte Eigelb bei normalen Eiern aussah, lugte dazwischen hervor. Das Besondere an diesen Eiern war nämlich, dass sie vom Huhn etwas länger ausgebrütet worden waren. Die Besitzer dieser Hühner warteten also, bis sich aus dem Dotter so etwas wie "richtiges Leben" gebildet hatte. Das heißt, dass es sich um Embryonen in mehr oder weniger erkennbarem Zustand handelte. Dann nahm man den Hühnern die Eier weg und kochte sie ab. Das Ergebnis sah dann so aus:
Schlagartig verging mir der Appetit. Das Tierchen hatte bereits ausgebildete Füße, Krallen, ein Schnäbelchen und kleine Härchen, die schon an die Federn, die dieser Vogel einmal gehabt hätte, erinnerten.
Am Nebentisch hatte in der Zwischenzeit eine Wandergruppe Platz genommen, die aus drei älteren Männern und einem kleinen Jungen, der schätzungsweise 7 oder 8 Jahre alt war, bestand. Sie bestellten Soju, eine Suppe und die Spezialität des Hauses - die Embryo-Eier.
Der Junge sollte von seinem Großvater an diesem Tag wohl zu einem richtigen Mann erzogen werden. Alkohol bekam er nicht eingeschenkt, aber dafür redeten die drei Alten auf den Jungen ein, er solle mutig sein und es sich mal ordentlich schmecken lassen. Der Großvater pellte ein Ei für seinen Enkel. Dann hielt er ihm ein Stück von dem Fleisch vor den Mund. Die Männer lachten, der Junge lachte mit. Etwas unsicher war sein Gesichtausdruck, aber keineswegs ängstlich oder angeekelt. Er biss ein kleines Stück ab. Die Männer prosteten sich zu und lobten den Jungen für seinen Mut.
Die anderen Gäste an den Nachbartischen beobachteten interessiert die Szene. Niemand sagte etwas. Es war ganz normal, dass hier ein Kind so etwas aß, was ich beim besten Willen nicht einmal anfassen, geschweige denn in den Mund nehmen würde. Man kann dazu sagen, was man will, aber in meinen Augen ist es nur eine Frage der Erziehung und der inneren Einstellung, was man isst. Wenn es gesellschaftlich anerkannt ist, etwas zu tun oder zu lassen, so wird dieses Denken auch für die nachfolgenden Generation bestimmend sein. Moral und Ethik existieren nicht global als etwas Allgemeinverbindliches, das für die gesamte Menschheit gleichermaßen von Belang ist, sondern eher lokal und sie sind Schwankungen und Änderungen unterworfen.
Jedenfalls hatte ich für diesen Tag genug gesehen. Nur verspürten meine koreanischen Begleiter ein leichtes Hüngerchen (wir hatten ja auch noch nichts gegessen an diesem Tag) . Sie schleppten mich in eine Filiale einer Fischrestaurant-Kette, die ich sehr mag, weil sie nur qualitativ sehr hochwertigen Rohfisch verwenden und ausgezeichnete Beilagen servieren. Die Bedienung und der Koch hatten zufällig den gleichen seltenen Familiennamen wie der eines meiner Begleiter und so schwatzten sie eine ganze Weile herum. Ich überreichte meine Neujahrsgeschenke, darunter eine CD mit Wanderliedern, die sofort in der Stereoanlage des Restaurants abgespielt werden musste. Der Begleiter mit dem seltenen Familiennamen bestand darauf und die Bedienung, die denselben Namen hatte und quasi in diesem Moment ein Familienmitglied war, konnte sich diesem Wunsch nicht entziehen.
Beim Essen hörten wir also solche Kracher wie "Sah ein Knab' ein Röslein steh'n", von dem ich gar nicht gewusst hatte, dass das ein Wanderlied ist, und "Hoch auf dem gelben Wagen" oder auch "Am Brunnen vor dem Tore". Mir war das anfangs ziemlich peinlich, also konnte ich gar nicht so betrunken sein. Das änderte sich aber, als Sake bestellt und getrunken wurde.
Meine Begleiter waren absolut nicht textsicher, aber summten immer mal wieder bei einigen Liedern mit. Das Tollste aber war, dass sich niemand der anderen Gäste von der Musik gestört fühlte und wir die komplette CD anhören konnten. In Deutschland wäre so etwas nicht möglich.
Irgendwo in einem Seouler Restaurant steht jetzt als Erinnerungsstück an diesen denkwürdigen Abend eine leere Flasche "Kleiner Feigling" im Barregal hinter der Theke.
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